Sokrates Daimonion

Sokrates nimmt den Schierlingsbecher
Sokrates nimmt den Schierlingsbecher

Sokrates schätzte seine innere Stimme sehr hoch, vertraute ihr und hörte, was sie ihm zu sagen hat. Er gab ihr auch einen Namen: δαιμόνιον – Daimonion. Das war selbst im progressiven antiken Athen ein Tabu-Bruch und kostete Sokrates dann am Ende sogar sein irdisches Leben.

Sokrates im antiken Athen

Sokrates wurde zu Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt – weil, wie seine Ankläger sagten, er einen neuen Gott einführen und so die Jugend verderben würde. Was zwar Unsinn war, aber: Worum es Sokrates mit seinem Daimonion ging, war selbst in der progressiven griechischen Polis Athen eine Revolution, ein Tabu-Bruch. Sokrates stellte mit seiner Fragetechnik, welche Daimonion freilegen sollte, die vertrauten Gewissheiten der Athener infrage.

Revolutionen aber haben es in sich, dass sie es oft genug an sich haben, schnell wie möglich wieder vergessen wurde. Und das ging schon mit seinem berühmtesten Schüler los: Das Daimonion des Sokrates wurde von Platon ins normal-sterbliche Klein-Format übersetzt und so blieb

Was meint Sokrates mit „Daimonion“

Eugène Delacroix, Sokrates und sein Dämon, 1838/44.  Paris, Palais Bourbon
Eugène Delacroix, Sokrates und sein Dämon, 1838/44. Paris, Palais Bourbon

Ein Daimonion eines Menschen versteht Sokrates als eine göttliche Kraft, die jeder Menschen von Geburt an in sich spüren kann. Es ist eine sehr persönliche Kraft, die zwischen den Menschen und den Göttern vermittelt. Später gab es viele solcher Konzepte, die zwischen den Menschen und den Göttern vermittelten, sei es die christliche Himmelsleiter, die Weltenesche in der Edda oder die Intuition in der modernen Psychologie.

Die Weisheit des Menschen, nicht nur die der Götter, jedenfalls wird bei Sokrates zum ersten Mal zu einem zentralen Thema. Weisheit resultiert nach Sokrates aus einem Dialog zwischen der allgemein gültigen Vernunft und dem persönlichen Daimonion.

Folgender Erklärung von Wikipedia stimme ich im Wesentlichen zu:

„Das Daimonion wurde von Sokrates als eine innere Stimme von göttlichem Ursprung erklärt. Diese innere Stimme warnte ihn in entscheidenden Augenblicken und hielt ihn von der Ausführung einer gefährlichen Absicht ab. Er verstand es als eine Gegeninstanz zum Logos, die das erkennt, was der Vernunft verborgen bleibt, … Sein Daimonion schätzte Sokrates so hoch ein, dass er ihm auch gegen seine rationale Einsicht gehorchte. Da er es auch über die Götter stellte, wurde ihm vorgeworfen, es als einen neuen Gott einführen zu wollen.“

Um ein vorherbestimmtes Schicksal allerdings, wie dort dann weiter zum Daimonion von Sokrates zu lesen, geht es bei Sokrates – eben nicht. Das gerade nicht.

Platon und Aristoteles deuten Sokrates auf ihre Weise

Sokratesbüste aus dem 1. Jahrhundert im Museo Nazionale Romano, Palazzo Massimo alle Terme, Rom
Sokratesbüste aus dem 1. Jahrhundert im Museo Nazionale Romano, Palazzo Massimo alle Terme, Rom

Sokrates wurde schon von seinem vertrautesten Schüler – Platon – missverstanden. Platon deutete das Streben des Sokrates zu sich selbst – als das Streben nach ewiger Wahrheit – er nannte es noch: Nach ewigen Ideen. Wahrheit – so wie wir sie heute kennen – machte dann Aristoteles aus den ewigen Ideen des Platon. Aristoteles gilt noch heute als Autorität und Stammvater der Wissenschaften.

Furchtbar, was dem Sokrates da angetan wurde? Jein.

Vielleicht kam Sokrates zu früh mit seiner Vorstellung eines von jedem Menschen erfahrbaren Daimonion. Die Kunst, mit seinem eigenen Daimonion ins Gespräch zu kommen, braucht die Lebendigkeit einer mythischen Welt und sie braucht die Methode der Wissenschaft. Zu Sokrates Zeiten verlor die mythische Welt gerade ihre Strahlkraft. Und die Methode der Wissenschaft lag noch in den Windeln.

Das Daimonion von Sokrates heute

Der bekannteste Satz des Sokrates lautet – und zwar ernst gemeint: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Zusammen gedacht mit dem Daimonion lässt sich: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ auch so lesen:

Das Daimonion eines Menschen, wir würden heute von Seele oder Psyche oder Bewusstsein (samt Unbewusstem) sprechen, kann nicht nur inspirieren, sondern auch lebensentscheidende Orientierung geben.

Was für ein Mensch ich werde, entscheidet das unbewusst wirkende Daimonion allein ebenso wenig wie die Vernunft für sich allein. Das Daimonion „weiß“ so wenig wie die Vernunft – nämlich nichts. Es ist alles andere nicht allmächtig. Die Weisheit sowohl des eigenen Daimonion wie der Vernunft liegt allein in der Kunst, miteinander in einen vertrauensvollen Dialog zu kommen:

Die Vernunft

Die Vernunft hat den Überblick und Distanz und ist dadurch in der Lage, alles mit allem durch gezieltes und genaues Fragen zu verbinden – wenn die Vernunft sich auf die Antworten des Daimonion einlässt und sich von seinen Antworten zu weiteren Fragen führen lässt. Statt selbst nach Antworten zu suchen.

Grenzen der Vernunft

Antworten, die man direkt in Handlung umsetzen kann – ist nicht Sache der Vernunft. Sie bleibt mit ihren Antworten auch wieder nur in der Distanz. Das aber nützt einem Menschen, der mitten in einer Entscheidung steht, herzlich wenig. Er muss handeln können, und zwar jetzt, und zwar ihn betreffend.

Daimonion als Netz

Das Daimonion ist das unendlich verästelte und sich pausenlos erweiternde Netz aller Lebenserfahrung, die ein Mensch macht. Zu einem kleinen Teil – bewusst verarbeitete Beobachtung, zum großen Teil unbewusst abgespeicherte Empfindung und Gefühle. Trigger sagen wir heute, tief sitzende emotionale Prägungen und Überzeugungen. Für viele Menschen wird dieses Geflecht zu einem Labyrinth, in das Mensch sich selbst immer wieder eingesperrt.

Daimonion als Quelle von Weisheit

Wenn sich das Daimonion von der Vernunft durch Fragen führen lässt, wird es zu einer wertvollen Quelle von tiefen Einsichten. Selbst Fragen stellen kann es eher nicht und vielleicht passt auch die Vorstellung ganz gut, dass es eher Bilder als digitale Sprache versteht.

Allgemeine Begriffe, welche die Bilder und Einsichten verschiedenster Herkunft durch Fragen miteinander in Verbindung setzen könnte, ist Sache des Verstandes. Das Daimonion aber kann Muster sehen, spüren, aufspüren, es arbeitet bildhaft.

  • Alle Erfahrung ist aufbewahrt und über Bilder und Gefühle miteinander verknüpft. Ruft man sie auf, sind sie da und wahr, höchst gegenwärtig. Eben deshalb so kraftvoll, überzeugend, eindringlich und unentrinnbar.

Die Kunst des Fragens im Sinne von Sokrates

Ans Licht des Bewusstseins kommt ein Bild, Einsicht, Erinnerung des Daimonion mit seiner ganzen Kraft nur, wenn es aufgerufen oder aktiviert wird.

Normalerweise, wie wir heute wissen, werden Erinnerungsbilder durch Ähnlichkeit aktiviert. z.B. in einer Situation, die der abgespeicherten ähnlich zu sein scheint  – aus welchen zufälligen Verknüpfungen heraus auch immer. Spontan, ungerufen, oft Verwirrung auslösend.

Doch lässt sich das Daimonion – eben dies tat damals schon Sokrates – auch durch gezieltes, aufmerksames Fragen zum Reden bringen. Im Dialog wird es zum weisesten Ratgeber, den man sich nur wünschen kann. Und zum persönlichsten.

Man muss natürlich, wie Sokrates, die Kunst des Fragens verstehen, um ins Gespräch mit seinem Daimonion zu kommen. Die Weisheit und Orientierungskraft seiner Antworten hängt ganz davon ab, dass die Fragen aufmerksam, immer am Faden des Gesprächs, aufrichtig und offen sind, sodass Vertrauen entstehen kann.

Summa summarum: Ein glückliches, selbstbestimmtes, ja das Leben überhaupt – beginnt mit aufmerksamen Fragen.

Quellen

 

4 Kommentare

  1. Nur Esoterik ?
    Bezugnehmend auf den Abschlussatz dieses Artikels
    möchte Ich anmerken, das man unter „Esoterik“ den „inneren Kreis“,
    also „die innere Betrachtungsweise“, den „Blick nach Innen“
    versteht. – Auch wenn sich dieser Begriff wie vieles sehr
    verselbstständigt hat, wird sich wohl nie etwas daran ändern,
    dass mich kaum etwas handlungsfähiger macht, als „der Blick in
    mein Inneres“ …

    Möchte man dem Zeitgeist entsprechen, ist die Hinzunahme
    wissenschaftlicher Erkenntnis sicher von Vorteil,
    – als definitive Notwendigkeit hat sie sich meines Erachtens nach
    nie wirklich herausgestellt, – wiewohl sie natürlich die
    Kommunikation in dieser wissenschaftsgeprägten Zeit erleichtert. –

    Aber gerade die „Kommunikationsabhängigkeit“ möchte Ich in Frage
    stellen. –
    Wir leben in einer Zeit, in der Jeder mit Jedem über nahezu alles
    quasselt. –

    Es ist ja schön, dass wir unsere Scheu voreinander verlieren,
    aber was ausser heillosem Lärm und fehlender Innenschau bringt
    es uns eigentlich ein ?

    – fragt sich Adamon. –

    • Hallo Adamon;
      OK,

      Hallo Adamon;

      OK, einverstanden. Ich ändere den letzten Satz und schreibe: Wunschdenken statt Esoterik.

      Der Blick nach innen – so wie Sie Esoterik verstehen – ist natürlich wichtig – genauso wichtig wie der nach außen.

      Danke für den Hinweis

      Angel

      **************

      Spielen ist das ganze Geheimnis.

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