Das Göttliche oder wie Markus Gabriel es sagt: „Die Frage nach Gott oder dem Göttlichen … ist die wichtigste Frage der Menschheit.“ Meint er das ernst? Wie begründet er dieses Statement? Und vor allem: Was würde daraus folgen, wenn es so wäre, wie er behauptet? Markus Gabriel, ein deutscher Philosoph, Erkenntnistheoretiker, Jahrgang 1980, formuliert öfter mal sehr deutlich und überraschend. September 2023, Sternstunde Religion im Schweizer Fernsehen. Dort setzt Markus Gabriel seine Ansage zur wichtigsten Frage der Menschheit vermutlich gezielt als Statement. Einen Spruch dieser Art hatte ich, die ich die meisten Bücher von ihm gelesen habe, nicht erwartet.
Inhaltsverzeichnis
- Das Göttliche und die Wirklichkeit bei Markus Gabriel
- Moderner Nihilismus – Quelle der ökologischen Krise
- Naturwissenschaften setzen auf Materialismus
- Das Göttliche – die Existenz oder Nichtexistenz Gottes
- Das Göttliche ist mehr als die mächtigste Fiktion
- Der Mensch ist frei in seinem Glauben, denn die Wahrheit über Gott wissen wir nicht
- Die persönliche Erfahrung des Göttlichen führt nicht zu allgemeingültigem Wissen, das wäre Anmaßung
- Gott und Mensch
- Wieso eigentlich Glaube?
Voraussichtliche Lesedauer: 10 Minuten
Das Göttliche und die Wirklichkeit bei Markus Gabriel
„Gott und die Wirklichkeit sind letztlich dasselbe.“ Was meint er damit? Der Ursprung der Frage nach Gott, den Göttern oder dem Göttlichen liegt bei Gabriel darin, dass Menschen transformative Erfahrungen machen mit der Wirklichkeit. Sie erfahren nicht nur, dass man ihr nicht entrinnen kann, sondern dass die Wirklichkeit mit ihnen spricht und zwar so, dass sie sich dadurch verändern. Was er damit meint, beschreibt er zum Beispiel in einem Podcast-Interview im Hotel Matze als höchst unwahrscheinliche und zugleich bedeutsame Zufälle. Er verfolgt, so erzählt er, eine bestimmte Spur und die Infos, die er braucht, fliegen ihm zu, auch solche, gerade auch solche, mit denen er überhaupt nicht rechnete. Das Leben bekommt eine Dichte, durch die es besonders lebendig, bedeutsam wird in solchen Momenten. Schön treffend, fand ich, hatte er in diesem Podcast-Interview solcher Art von Erfahrung formuliert, die vielleicht viele, zumindest Forschende, kennen. Ich jedenfalls schaue und höre seit diesem Interview mit Matze Hielscher genauer hin, wenn Markus Gabriel auf der Bildfläche erscheint.
Moderner Nihilismus – Quelle der ökologischen Krise
Der moderne Nihilismus ist heute weit verbreitet in unserer Kultur. Er hält das Göttliche für uninteressant und geht statt dessen davon aus, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. Das menschliche Leben ist kurz, das Zeitfenster von Menschen folglich sehr kurz. Menschen streben nach dem Augenblicksglück. Mehr Sinn im Leben oder gar Sinn des Lebens gibt es nicht – so der moderne Nihilismus. Das führt zu eben nur kurzfristigen Zielen. Mehr als die eigene Bedürfnisbefriedigung ist für ein nihilistisches Weltbild nicht von Interesse: Nach mir die Sintflut – was interessiert mich die Klimakatastrophe, was die Selbstausrottung der Menschheit! Das Leben ist sinnlos. Der moderne Nihilismus bestimmt gerade den Zeitgeist. Richtig, logisch stimmig, so Markus Gabriel, ist er nicht.
„Der Atheismus ist der Glaube an die Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens.“ Betonung auf Glaube, was wenig überraschend einiges an empörten Einwänden zur Folge hatte, etwa in den Kommentaren bei Youtube:
Naturwissenschaften setzen auf Materialismus
Die Naturwissenschaften heute, so Markus Gabriel, nehmen für sich in Anspruch, die Welt vollständig erklären zu können und ohne das Göttliche auszukommen. „Die Wirklichkeit ist ein Puzzleteilchen und dann noch eins, und wenn man fertig ist, hat man sie.“ Doch wenn man sich fragt, was die Naturwissenschaften tun, stößt man auf Ungereimtheiten. Denn sie nehmen Dinge in Anspruch, die naturwissenschaftlich nicht erklärbar sind. Zum Beispiel die Mathematik. Übersehen wird also zum Beispiel die Frage: Warum ist die Natur mathematisch beschreibbar? Daran sehen wir, so Markus Gabriel, dass die Ressourcen, mit denen wir die Natur wissenschaftlich beschreiben, geistiger Natur sind. Sie sind nicht materiell, sondern geistig, „Indikator eines Höheren“.
Das Göttliche – die Existenz oder Nichtexistenz Gottes
Gott, so Markus Gabriel, „gibt es natürlich wirklich“. Wie auch Einhörner und der Weihnachtsmann, existiert Gott zumindest als eine Fiktion. Fiktionen existieren mindestens in unserer Einbildung und ihr Einfluss auf das was wir tun, lässt sich schwerlich verleugnen. Auch „den Weihnachtsmann gibt es mindestens in Praktiken des Glaubens an ihn.“ Dinge, die es nur gibt, „weil wir an sie glauben, Geld, Liebe, Demokratie, gibt es selbst nur, weil sie abhängig davon sind, wie wir uns zu ihnen verhalten.“ Auf die Vorstellung von Gott angewandt: Er ist das wirkmächtigste dieser „Dinge“. Existenz zeigt sich in der Wirkung, zeigt sich mindestens im Einfluss dieser Fiktion auf unser täglich Tun. Ein Gedanke, der für ihn seit Jahren besonders wichtig ist: Wir leben im Lichte einer Vorstellung von uns selbst (und der Welt). Es macht z.B. einen deutlichen Unterschied, ob wir unser Leben im Lichte einer Vorstellung von uns selbst als Loser oder als Künstlers, als Staubteilchen oder einer unsterblichen Seele führen.
Das Göttliche ist mehr als die mächtigste Fiktion
Weiter zur nächsten Frage des Moderators Ahmad Milad Karimi. Ist Gott mehr als eine mächtigste Fiktion. Wieder antwortet Markus Gabriel nicht direkt, sondern mit einem anderen Philosophen, in diesem Fall René Descartes: Die Idee des Göttlichen hat einen Inhalt, der über alles hinaus geht, nämlich Unendlichkeit, was wir uns vorstellen können. Deshalb, so René Descartes, kann diese Idee niemandem eingefallen sein. Gott ist größer als alles was wir denken können. Wir können ihn, wir können das Göttliche selbst: Nicht denken. Die Grenzen des Denkbaren stehen zwar nicht fest, aber das Göttliche ist auf der anderen Seite, mit dem Kopf kommen wir da nicht hin. Aber: „Ich habe meine Hände ausgestreckt in Richtung Transzendenz, ich weiß nicht, ob sie jemand entgegengenommen hat.“
Der Mensch ist frei in seinem Glauben, denn die Wahrheit über Gott wissen wir nicht
Auf die Frage von Moderator Karimi, ob religiöses Denken nicht doch Wunschdenken sein könnte, antwortet Philosoph Gabriel nicht direkt. Statt dessen formuliert er, meines Erachtens druckreif: „Wir wissen das ja nicht. Deswegen sind wir frei. Eine Antwort auf die Frage, wie sich Gott, wenn es ihn denn gibt, zum Menschen verhält, ist zu sagen, … dass Gott den Menschen als frei geschaffen hat. Wir wären nicht frei, wenn wir die Frage, ob wir es hier mit einer Projektion zu tun haben oder mit der Erfassung dessen, wie die Dinge sind, objektiv beantworten könnten.“
Die persönliche Erfahrung des Göttlichen führt nicht zu allgemeingültigem Wissen, das wäre Anmaßung
Der Moderator Karimi fragt weiter, auf Religion in der Gesellschaft bezogen: „Gibt es etwas, das ihnen zuwider ist?“ Antwort Philosoph Gabriel: „Der Dogmatismus. D.h. der Glaube, dass man Bescheid weiß. Eine Schwachstelle jeder organisierten Religion ist, dass sie Fundamentalismus generieren kann …Glaube wird dann plötzlich doch durch Wissen ersetzt. Und aus Wissen werden sogar sehr konkrete Handlungsanweisungen abgeleitet, die für alle Menschen gelten sollen.“ Wenn Religion umschlägt in die Anmaßung von Wissen – dort, wo wir keines haben, wird sie zum religiösen Aberglauben und überschreitet ihre eigene Grenze. Aberglaube, „weil aus der Erfahrung Gottes sicherlich nicht konkret abgeleitet werden kann, wie alle Menschen zu leben haben.“ Und Anmaßung da: „Religion, von Menschen organisiert, kann nicht mehr sein als das was Menschen wissen.“
Gott und Mensch
„Man kann Gott um vieles bitten, das heißt aber noch lange nicht, dass er zuhört.“ Wer glaubt, dass er durch Beten etwas erreichen kann, eine Wunschliste an Gott, der wird immer wieder scheitern. Das heißt aber nicht, dass es keinen Gott gibt, weil er unsere Wünsche nicht erfüllt, sondern es bedeutet nur, dass der Abstand zwischen Mensch und Gott darin besteht, dass das, was wir gerade für unseren Wunsch halten, aus der angenommenen Perspektive Gottes noch lange nicht relevant ist.
Wieso eigentlich Glaube?
Ich stimme Markus Gabriel in vielen seiner Aussagen zu, besonders seiner Kritik am Zeitgeist des modernen Nihilismus. Auch seine Einschätzung, dass Dogmatismus innerhalb den Religionen den organisierten Religionen inhärent ist, passt, scheinit mir stimmig. Kritik also in beide Richtungen – Atheismus und Theismus und beide halte ich für treffend formuliert.
Einwände und Fragezeichen (die nicht gleich Einwände sind):
- Glaube – geht es nicht auch anders? Stichwort komplexe Systeme? Eigentlich hatte ich bei dem Thema erwartet, dass Markus Gabriel Komplexitätsforscher wie Dirk Brockmann als seine nächsten Verbündeten aufruft.
- Ding – das Göttliche / Gott? Um ein Ding oder um Dinge handelt es sich dabei gerade nicht, sondern um veränderliche Muster, Prozesse oder komplexe Systeme. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Markus Gabriel das Göttliche / Gott auch nur im entferntesten für so etwas wie ein Ding hält. Oder etwa doch?
- Transzendenz – doch wieder eine nicht erkennbare Welt irgendwo? Wenn man Transzendenz räumlich verortet, handelt man sich wieder eine geteilte Welt (Diesseits – Jenseits, Sein – Schein), ein. Das wäre, soweit ich das blicke, ein Widerspruch zu den Büchern, die ich von Herrn Gabriel kenne.
- Religion – oder Spiritualität? Der Unterschied ist für Thomas Metzinger ein zentraler. So wie ich Markus Gabriel verstehe, müsste diese Differenz sehr in seinem Sinne sein. Oder habe ich da etwas überhört?
- Konsequenzen – was wäre möglich? Wenn der Zeitgeist das Göttliche als „die wichtigste Frage der Menschheit“ als solche anerkennen würde – was wäre dann möglich? Ein Alternatives Szenario?
Quellen
- Text: Sternstunde der Religion mit Markus Gabriel / Sternstunde Philosophie mit Hübl und Tetens / Markus Gabriel: Fiktionen, Suhrkamp /
- Bilder: © Foto von Deposito / Foto von Deposito / Foto von SRF Kultursternstunden / Foto von Deposito
„Die Naturwissenschaften heute nehmen für sich in Anspruch, die Welt vollständig erklären zu können und ohne das Göttliche auszukommen“
Stimmt denn das? Den „Anfang“ kann niemand erklären. Da ist die Rede von der Singularität, die in der Physik so dargestellt wird -> 8, allerdings liegend. Nun, die 8 lässt sich auch stehend als Unendlichkeit deuten.
Lapidar heißt es in der Physik, dass diese Singularität kein Bestandteil der Raumzeit ist. Ist das eine ECHTE Erklärung – oder lässt sich diese Erklärung eher als Hilflosigkeit bezeichnen?
NICHTS kann es nicht geben, nun gut, dann ist die Erklärung gemäß der griechischen Mythologie genauso gut oder schlecht wie die der Physik:
Das Chaos (Singularität) gemäß Hesiod
@Holger;
So einfach wie du es beschreibst, nehmen Physiker den Zsh. von Raumzeit und Urknall nicht.
Schau mal hier: https://youtu.be/hrJViSH6Klo?si=KmOKHeIep02Hl1-e
oder auch hier: https://youtu.be/X70AC3ehFho?si=rNBfnH-ez0YxLbFe
Und dass Sie das Göttliche in Bausch und Bogen von sich weisen – da stimme ich Markus Gabriel auch nicht zu. Im Gegenteil. Es gibt durchaus begeisterte Physiker heutzutage, Gaßner und Ganteför zum Beispiel oder auch Lesch und Zeilinger, denen sehr wohl bewusst ist, dass sie keineswegs alles wissen. Aber sie fragen und fragen immer weiter, mit leuchtenden Augen. Das finde ich faszinierend und ist aktuell auch meine tägliche Abendlektüre bzw. Ohrenschmaus.
Wie intensiv Gabriel sich mit Physik auseinandersetzt, weiß ich natürlich nicht. Er ist Philosoph, auch mit Leib und Seele, und hat einen anderen Blick auf die Welt als Physiker. Ich glaube, sein Argument an der Stelle ist vor allem, dass Naturwissenschaftler mathematische Regeln als gegeben hinnehmen.