Nirgends wurde die feinsinnige Kunst der Liebe so faszinierend beschrieben wie im Kama Sutra. Verständige Sachlichkeit gepaart mit natĂĽrlich göttlichem Selbstverständnis erzeugen eine Stimmung, die uns Moderne erstaunen lässt. Der Klassiker der Liebeskunst beschreibt sein Thema – die Kunst der Liebe – so fein und genau, dass es heute noch, mehr als zweitausend Jahre, nachdem es niedergeschrieben wurde, als echtes Praxisbuch in aller Welt geschätzt wird.
Die Kunst der Liebe – unromantisch aber göttlich
Anders als fĂĽr uns heutige Europäer so selbstverständlich, hatte Liebe ursprĂĽnglich nichts mit schwärmerisch romantischen GefĂĽhlen zu tun. Und auch zu verbergen gab es da nichts. Die romantische Liebe, wie der deutsche Soziologe Niklas Luhmann in seinem legendären „Liebe als Passion“ eingehend analysierte, hat sich erst mit dem BĂĽrgertum entwickelt und als Standard der modernen Liebe ausgebreitet. Ein höchst täuschungsanfälliges Konstrukt. Denn der so ĂĽber alles Geliebte muss nun die Leerstelle ausfĂĽllen, die Gott hinterlieĂź: Bedingungsloses Annehmen der eigenen Person.
In einer Welt, die von allen Göttern verlassen ist, wird der leidenschaftlich Geliebte zum Symbol all meiner WĂĽnsche. Die zu erfĂĽllen sein ganzen Sinnen und Trachten ist. So die Spielregel der groĂźen romantischen Liebe. Ein seltsames Spiel, das Enttäuschung am FlieĂźband und RĂĽckzug in die Privatsphäre unvermeidlich mit sich zieht. In der Welt, in der das Kama Sutra – die Kunst der Liebe – entstanden ist, wurde die Welt dagegen natĂĽrlicherweise als göttlich verstanden – mich selbst und den anderen einbegriffen. Diesen Charme natĂĽrlich gegebener Göttlichkeit – des ganzen Lebens und jedes seiner noch so kleinen Details – atmet das ganze Kama Sutra.
Die Kunst der Liebe – umfassend verstanden
Das Kama Sutra befasst sich mit der Kunst der Liebe keinesfalls nur im Sinne von Liebeskunst im engeren Sinne. Ein Blick in das Buch verrät sogleich, dass „Liebeskunst“ nur eines von insgesamt sieben BĂĽchern des Kama Sutra ausmacht.:
- Meditationen – Buch IÂ
- Liebeskunst – Buch IIÂ
- Werbung – Buch IIIÂ
- Ehe – Buch IV
- Die Frauen anderer Männer – Buch V
- Kurtisanen – Buch VI
- Aphrodisiaka – Buch VII
Die eigentliche Kunst der Liebe, so wusste schon das Kama Sutra, besteht nicht so sehr in großen Gefühlen, sondern aus vielen alltäglichen, kleinen aber wichtigen Handlungen. Es enthält neben genauen praktischen Anweisungen, wie die Liebeskunst im Liegen, Sitzen, Hocken, Stehen etc. zu praktizieren sei, auch ausführliche Hinweise zum Umgang von Eheleuten miteinander. Wozu auch ausführliche praktische Tipps, wie man ein gemeinsames Haus führen sollte, gehören.
Das Bepflanzen eines Gartens, die Einrichtung der KĂĽche, die Möblierung des Hauses – alles Kleinigkeiten, die viel mehr zur Stimmung zwischen den Liebenden beitragen, als man meinen mag. Die Form, in der das Kama Sutra geschrieben wurde, ist die eines quasi wissenschaftlichen Textes. Die Kunst der Liebe wird hier nicht schwärmerisch besungen, sondern in deutlichen Anweisungen und Lehrsätzen beschrieben. Insofern lässt sich sagen, dass das Kama Sutra der erste Versuch ist, die Kunst der Liebe wissenschaftlich – sachlich und umfassend zu beschreiben.
Kama – Gott der Freude und Lust
Kama ist der Name des indischen Gottes, der fĂĽr die Kunst der Liebe zuständig ist. Das Wort „Kama“ bedeutet so viel wie Lust oder Freude. Mit Lust ist im indischen nicht nur die sexuelle Lust gemeint. Kama umfasst alle Lust, die sich sinnlich erfahren lässt: Den Duft einer Rose, den Klang von Musik, den Genuss der fĂĽnf Makaras.
Das Kama Sutra selbst definiert das Wort Kama so:
Kama ist die Freude des Körpers, des Geistes und der Seele
an erlesenen Empfindungen
Erwecke die Augen, die Nase, die Zungen, die Ohren, die Haut –
und zwischen GefĂĽhl und GefĂĽhltem
wird das Wesen des Kama erblĂĽhen.
Ăśbersetzt bedeutet „Kama Sutra“ soviel wie: „Aphorismen ĂĽber die Liebe“. Das Buch wurde vor mehr als 2000 Jahren geschrieben – um die Zeit der griechischen Hochkultur in Europa – etwa 300 v. Chr. Als Verfasser gilt ein Mann namens Mallanaga Vatsyayana. Deshalb wird Vatsyayana Kama Sutra als der vollständige Name des Buches genannt.
Tantrische Beschreibungen, die sich ja auch als Kunst der Liebe verstehen, basieren meist auf dem Kama Sutra. Nicht nur die anregenden Bilder, sondern auch die ausführlichen Beschreibungen von Liebesstellungen haben das Kama Sutra zu einem der einflussreichsten Texte der Weltkulturgeschichte gemacht. Meiner Vermutung nach sind es jedoch nicht nur Stellungen selbst, die das Kama Sutra der alten Inder über Jahrtausende so attraktiv macht.
Mindestens so faszinierend dürfte zumindest für uns Europäer die spirituelle Tragweite der sexuellen Symbolik bei den Indern sein. Diese ist in der christlichen Tradition meist explizit ausgeblendet. Oder aber die sexuelle Symbolik wird in der christlichen Tradition so kompliziert verschlüsselt, dass man sie nur als solche erkennt, wenn man sich sehr eingehend mit ihr auseinandersetzt.
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