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Wer bin ich, wenn ich ewig lebe?

Wer bin ich?  ICH + ES + DU
Wer bin ich? ICH + ES + DU

Wer bin ich. Diese Frage stellen sich Menschen häufiger als sonst in Krisensituationen. Wenn „meine“ Existenz nicht mehr so selbstverständlich scheint wie sonst. Wenn mir nicht mehr, wie als Kind noch, selbstverständlich ist, dass ich ewig lebe.

„Wer bin ich“  –  diese Frage, stellen sich nur Menschen. Soweit wir das heute wissen. Menschen haben sich Sprache und mit ihr eine zweite Wirklichkeit (aus Worten) erschaffen. Und so lernten sie auch das Wort „Tod“. 

Vom Wir zum Ich

Eine der großen Entdeckungen um die Zeitenwende, in der auch die Bibel entstand, war die Frage nach dem „Ich“. Sie hatte sich wahrscheinlich als eigenständige Erfahrung über viele Jahrhunderte schon aus der Grunderfahrung „Wir“ herausgeschält. Nun, um die Zeitenwende, wurde sie explizit, überliefert in Texten, gestellt. 

Im „Wir“ war der Einzelne noch sicher aufgehoben, geschützt, wuchs in seine natürliche Rolle hinein. Noch erlebte er sich nicht als verantwortlich für das was ihm geschah. Weder im Leben noch nach dem Tod. 

Wenn er sich verliebte, hatte Amor einen Pfeil abgeschossen. Wenn er grollte, wurde er von Ares gelenkt. Der einzelne Mensch traf keine Entscheidungen, zumindest keine von Tragweite. Insofern waren konkrete Menschen nicht wichtig und erlebten, soweit man das heute rekonstruieren kann, sich selbst als nicht wichtig. Wer bin ich? – diese Frage wurde wahrscheinlich nicht einmal gedacht, geschweige gestellt.  

Zudem, auch das wird eine wichtige Grunderfahrung gewesen sein: Ein einzelnes Ich ist naturgemäß ungleich schwächer als das lebenserhaltende, alle koordinierende Wir. Und dennoch muss dieses „schwache“ Ich, als es sich zu artikulieren begann, als gefährlich, zersetzend für den Zusammenhalt der Gemeinschaft, erlebt worden sein. 

Wer bin ich?

Frühe Anfänge eines Monotheismus lassen sich sicherlich als Indiz für das werdende Ich deuten. Für Menschen, die „Ich“ denken und sagen können. Und wer „Ich“ denken und sagen lernt, beginnt nach Unterschieden zwischen Ich und seiner Umwelt zu fragen. 

Vielleicht erlebte sich so mancher schon als jemand, der den entscheidenden Unterschied machen konnte, in einem Krieg, bei einem Bauprojekt.

In der griechischen Antike, Walter Ötsch beschreibt die langsame Entwicklung einer Ich-Perspektive in seinen Vorlesungen Schritt für Schritt, begann spätestens mit Sokrates das Ich seine Eigenständigkeit vehement anzumelden. 

Das aufkommende Christentum, beschrieben dann in der Bibel, schrieb jedem Menschen eine unsterbliche Seele zu. Es war (noch) keine individuelle, einzigartige Seele, sondern ein unteilbares Verbundensein mit Gott. Doch von nun an, vorher noch nicht: Hatte jeder Mensch eine Seele. 

Diese Kehrtwende zur Zeitenwende verstehe ich so, dass damals der Anspruch auftauchte, dass Menschen sich ihrer Verantwortung für ihr Leben zu stellen begannen. In diesem Leben jetzt und nach dem Tod. 

Solch damals schon dämmerndes Verantwortungsgefühl von Menschen, indem sie nach sich selbst, nach ihrem Ich fragten, wurde mir durch Jan Assmann sehr viel klarer als zuvor. Es geht, schreibt Assmann, in der Bibel um das Schicksal des konkreten Menschen, das einzelne Ich. Dieses ist der Adressat der Bibel.

Gott ist Mensch geworden – zur Zeitenwende in Jesus

„Der Mensch ist das Maß aller Dinge“. formulierte zur Blütezeit der griechischen Antike schon Protagoras. Zur selben Zeit bringt Sokrates sein persönliches Daimonion in den philosophischen Diskurs ein. Nicht die Natur ist das Maß aller Dinge. Nicht schaltende und waltende Götter. Sondern der Mensch.

Und die frühchristlichen Gnostiker sagen dann: „Homo est deus“ – der Mensch ist Gott.

Und mit Jesus, der nach seinem Tod seinen Jüngern erschien, begann die Hoffnung der Menschen auf persönliche Unsterblichkeit. 

Es ging schon damals um die gleiche Aufgabe, die vor jedem einzelnen Menschen stand wie heute auch oder heute wieder. Sich als Mensch im höchsten Sinne zu erweisen. 

Wer bin ich – angesichts des einen Gottes?

Der Fehler oder vielleicht auch die Tragik der Bibel: Der Einzelne und seine persönliche Unsterblichkeit war nun zwar Thema. Und Menschen, die sich als Ich verstanden, begannen sich Rechenschaft über sich selbst abzulegen.

Aber ein Mensch der sich fragt: Wer bin ich? Wer bin ich – angesichts eines einzigen Gottes? war in seinen Antworten auf diese Frage alles andere als frei. Statt dessen erlebte er sich als hin und her taumelnd zwischen extremen Antwortmöglichkeiten. Die beide entsetzlich waren in ihrer Wirkung: 

  • Ich bin dem einen Gott so nahe, dass seine Macht mich mächtig macht.
  • Ich bin ohnmächtig ausgeliefert dem einen allmächtigen Gott.

Die Folgen ließen sich auch mit Hilfe des jetzt erst sich zeigenden Dilemmas zwischen (strukturell verlogenem) Altruismus und (hemmungslos mörderischem) Egoismus beschreiben. Die Lüge-Gewalt-Spirale, in der auch das einzelne Ich durchaus mal die Fronten wechselt, wenn es denn kann.

Ob vermeidbar oder eben nicht, kann man sicher streiten, aber: Zugleich mit der nun aufkommenden Frage nach dem Ich und seiner Verantwortung wurden mächtige  Antworten gegeben. Allmächtig, vom Allmächtigen selbst, autorisierte Antworten sozusagen. 

Die aufkommende Frage „Wer bin ich?“ wurde, um es noch deutlicher zu formulieren, im Keim erstickt. Indem erlaubte Antworten vorgegeben und bei Strafe der Ächtung durchgesetzt wurden. 

Von „Homo est Deus“ ist denn auch in der schließlich kanonisch gewordenen Bibel keine Rede mehr. Keinesfalls! Nur der eine Gott ist ein Gott. Und dieser eine duldet keine Götter neben, ein bis dato unbekannt eifersüchtiger Gott, wie Assmann ausführlich beschreibt. 

Und schließlich, für mich besonders erhellend: Dieser Gott duldet es nicht, beobachtet zu werden. Er, der alle und alles beobachtet, verweigert den Menschen, verweigert auch denen, die ihn inbrünstig lieben, ihn beobachten zu können. 

Und wenn ein Mensch zwar nun auf sich geworfen, aber nicht verantwortlich für sich ist, da dies ein Gott für ihn tut, wird er ohnmächtiger als zuvor. Aus Ohnmacht folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit Gewalt als Mittel, die zum Überleben notwendige Macht über sich selbst zurück zu gewinnen. Und zu verteidigen.

Vom Ich zum ICH

Moderne spirituelle Konzepte wie, mir am vertrautesten: Thelema, knüpfen in Bezug auf die zentrale Rolle des Ich an die Bibel an und gehen darüber einen kleinen entscheidenden Schritt hinaus zum ICH: Das spirituelle einzigartige ICH offenbart sich als eine Gottheit, die es nie zuvor gegeben hat. 

Dieses spirituelle ICH, viele sagen auch „Selbst“, ist kein kleines ohnmächtiges oder größenwahnsinniges Ich, sondern eine in sich stimmige ICH-Perspektive, die jeder Mensch entwickeln kann und dies mehr oder weniger im Laufe seines Lebens auch tut.

Eine Perspektive, die sich von Moment zu Moment verändern kann und tatsächlich, oft unbemerkt sicherlich, wandelt.

Solch ein, vielleicht könnte man sagen: erwachendes, ICH wird sich zunächst mit seinen eigenen Erfahrungen identifizieren.

Es kann sich aber auch mit jeder nur denkbaren anderen Perspektive, empathisch, zum Beispiel dank Kunst, identifizieren. Es kann sich, je nach Situation, auch sehr verschiedenen Rollen identifizieren. ICH als Perspektiv-Wechsel, ICH als ein ständiger Prozess.

Dank seiner ICH-Perspektiv kann ein Mensch, kann jeder Mensch, alles was er erlebt, auf einen zentralen Bezugspunkt, auf sich selbst beziehen. Es ist der Punkt, von dem aus ein Mensch sich und seine Umwelt beobachten, deuten, bewerten kann. Jeder auf seine Weise, jeder einzigartig, auf jeden Fall persönlich.

Aus solch einer persönlichen, eben ICH-Perspektive lässt sich nun auch sinnvoll, stimmig, Stimmungen einbeziehend, entscheiden, was für „mich“, für „mein Handeln“ wichtig ist.

Ja – da ist sie wieder – die zentrale Instanz, die wir von dem einen Gott der Christen kennen. Nur dass diese zentrale Instanz nicht als eine fremde Macht über mir schwebt, sondern das „Ich“ es bin, der diese – zentrale – ICH-Perspektive einnimmt. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. So wie „Ich“ tut dies auf seine Art jeder andere Mensch, jedes andere „ICH“ auch.

Oder in einer Metapher, die mit Thelema in die Welt gekommen ist: „Jeder Mann und jede Frau ist ein Stern.“ 

Kein ICH ist allein: ICH und ES und DU

Kein ICH ist, wie man beim Thema „Ich“ vielleicht meinen könnte, einsam und allein. Es kann sich ja überhaupt nur herausbilden und weiter dann, mit sich selbst klar kommen, wenn es etwas hat, dass es selbst nicht ist, wenn es, logisch gesehen, auch Nicht-ICH gibt. Wenn so etwas wie Nicht-ICH erlebt, erfahren, erlitten werden kann. 

ES – die Welt, wie ich sie erlebe

Und es wird ja von jedem Menschen so erlebt. Es gibt nicht nur mich, sondern auch etwas anderes – meine Umwelt, ganz allgemein gesprochen. Und in dieser Umwelt geht es anders zu als mir mit mir vertraut. Die Welt ist größer und mächtiger, im Vokabular von Luhmann: ohne jeden Zweifel komplexer als ich kleines Ich. 

Eine Grunderfahrung, die ca 2000 Jahre als eine Welt mit zwei entgegengesetzten Werten beschrieben wurde. Angefangen, explizit, mit Platon. Und indem die Welt als eine zwei geteilte beschrieben wurde, wirkte dies auf das Erleben von Menschen zurück. 

DU – ICHs, die ich als anderes ICH erlebe

Heute, womit ich meine: seit gut 100 Jahren, entdecken Menschen in ganz verschiedenen Kontexten ein Phänomen, das auch als „DU“ bezeichnet wird. 

Es gibt, könnte man sagen, in dieser Umwelt ganz besonders interessante Vorkommnisse, es gibt andere ICHs. Und die unterscheiden sich deutlich für mich von dem, was ich allgemein als ES, als funktionierende Umwelt erlebe.

Insbesondere solche ICHs, denen ich nicht nur ein ICH unterstelle, sondern die ich persönlich als andere ICHs erlebe. Solche, die mir widersprechen, die sich wundern vielleicht über dieses oder jenes was ich tue. Oder die mir etwas von sich erzählen, das mich staunen macht.

Künstler zum Beispiel, vor allem aber „meine“ Eltern, Geschwister, Lehrer, Freunde, Geliebten, Kinder ….

Und diese DUs, meine DUs könnte ich auch sagen, erleben nicht nur sich und mich, sondern auch die Welt, also ihr ES, anders als ICH. 

So erschaffen wir Welten, in denen es sich lohnt, ewig zu leben 😉

Das kann ja spannend werden!

Bildquellen:

© Stefan Keller from Pixabay / 


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3 Kommentare

  1. Genauso warnt auch C.G. Jung vor der Identifizierung mit dem Selbst. Er erwähnt dann einen indischen Meister, eine leuchtende Erscheinung ohne Schatten. Erst als er die Frau des Meisters erblickte, hat er gesehen, wohin der Schatten des Meisters gefallen ist.
    Ich denke sich in die Erfahrungen leiten lassen, doch sich selber bleiben und aushalten mit Licht und Schatten ist ein gangbarer Weg.

  2. Beeindruckend, dass diese Ich-Selbst-Gott Linie in vielen Traditionen vorkommt.
    Das kleine Ich auf ein größeres ICH zu weiten – wäre in dem Vokabular, das ich verwende, vermutlich ICH + ES + DU.

    Das kleine Ich aufzugeben, wie es in vielen Religionen heißt oder gar selbstlos zu werden, scheint mir ein fataler Irrtum.

    Oder wie Hermann Hesse in seinem Stufengedicht dichtet:


    Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
    Er will uns Stuf und Stufe heben, weiten …

  3. Ich – ICH – Gott / indianisch: ich – der grosse Mensch in mir – der Grosse Geist / C.G. Jung: Ich – Selbst – Gott. Die Stifter der grossen Religionen sind darin als Symbole des Selbst zu sehen. Mich berühren die indianischen Ausdrücke am Meisten. C.G. Jung empfiehlt in seinem Individuationsprozess eine Ich – Selbst – Achse zu entwickeln. Indem den aus dem Unbewussten wirkenden Archetypen Schatten, Anima(-mus) Aufmerksamkeit gewidmet wird und so sich langsam eine Beziehung zum Selbst, zum grossen Menschen in uns, entwickelt. Über die Archetypen hätten wir dann wieder den Bezug zum Götterpanteon.

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